Rede gehalten auf luxemburgisch
am 29. April 2005 vor dem luxemburgischen Parlament
während des Hearings
"EU-Verfassungsvertrag und Soziales"
im Namen der Demokratie a.s.b.l.
(www.demokratie.lu), der Initiativen
IDEE und EAPN der MTK asbl (www.mtk.lu/dreigliederung.html)
und der IG EuroVision (www.willensbekundung.net)
Das soziale Europa ist eng verknüpft mit den Werten die hier gelebt werden. Dass die in der Erklärung der Staats- und Regierungschefs von Laeken vorgegebenen Werte „Demokratie, Transparenz und Effizienz“ beim Entwurf des Verfassungsvertrages erreicht wurden, bezweifelt der Staatsrat in seinem Gutachten. Die Werte der französischen Revolution nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oder Solidarität sind in Artikel 2 des Verfassungsvertrages enthalten. Sie sind noch immer anstrebenswert, aber auch nach über zwei Jahrhunderten noch immer unerreicht.
Wieso, ist einfach zu erklären, da sie sich, gleichzeitig angewandt, widersprechen, wie kann man nämlich frei und gleich zugleich sein ?
In der historischen Entwicklung des letzten Jahrhunderts wurde versucht einen dieser Werte in den Mittelpunkt zu stellen. Im Osten, d.h. im Kommunismus, im Staatskapitalismus wurde versucht die Gesellschaft so zu gestalten, dass alle gleichermassen an deren Reichtum teilhaben sollten. Die Gleichheit durch Zentralismus statt dezentraler freier Assoziationen musste scheitern. Im Westen stand die individuelle Freiheit im Mittelpunkt. Im neoliberalen Kapitalismus verbindet sich diese Freiheit mit egoistischen Triebkräften und lebt sich vor allem im Wirtschaftsbereich aus mit den bekannten Resultaten , Arbeitslosigkeit, Polarisierung von arm und reich. Auch dieses wird nicht die Lösung sein.
Wie soll denn ein dritter Weg aussehen ? Werfen wir einen Blick zurück auf die Entwicklung Europas nach dem zweiten Weltkrieg. 1949 wurde der Europarat als Wertegemeinschaft und geistig-rechtliches Fundament konstituiert, wobei ein vorbildliches System zum Schutz der bürgerlichen und politischen Menschenrechte installiert wurde. Der gemeinsame Wirtschaftsraum entstand zwischen 1951 und 1967. 1951 machten sechs Länder mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (CECA) den Anfang. 1957 kamen die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hinzu. Diese drei Organisationen wurden 1967 zur Europäischen Gemeinschaft (EG) vereinigt. 1979 finden die ersten Wahlen zum Europaparlament statt und 1992 kommt es zur politischen Europäischen Union. Eine gemeinsame Währung mit Europäischer Zentralbank entsteht 2002.
Verschiedene Bereiche der EU wurden nacheinander geschaffen, nämlich das kulturelle, das wirtschaftliche, das politische und das monetäre System. Diese Systeme sind vernetzt, verlangen aber auch gleichzeitig nach Selbstverwaltung. Verschiedene Werte sind ihnen sachgemäss zuzuordnen. Der genannte Prozess zeigt uns, dass wir der historischen Entwicklung nicht gerecht werden wenn wir sie konstitutionell nach dem Muster eines postnationalen Einheitsstaates reflektieren.
Der Bereich der Kultur zu dem etwa die Bildung, die Wissenschaft oder die Kunst gehört, verlangt die freie Entfaltung der Potentiale aller Menschen und dies zum Wohle aller EU-Bürger. Unsere Schulen sind zum Beispiel noch weit weg die Fähigkeiten und die Kreativität aller Schüler zu fördern, Wissensvermittlung von oben ist noch grösstenteils angesagt. So geht aus der Studie „Votre école et Vous“ des Erziehungsministeriums aus dem Jahre 2004 hervor, dass die Professoren und Direktoren der Sekundarschule zum Beispiel Kreativität als wenig wichtig für die Zukunft der Schüler einstufen und daher auch dieser Qualität in ihrem Unterricht weniger Beachtung zukommen lassen, umso mehr den Kompetenzen Respekt, Disziplin und Höflichkeit.
Wie die Freiheit in den kulturellen Bereich gehört, so gehört die Gleichheit in den Rechtsbereich, in den Bereich der Politik. Jedem Bürger muss das gleiche Mitrecht an der Gestaltung unseres Zusammenlebens gewährt werden. Direkte Demokratie mit Volksgesetzgebungsmöglichkeiten komplementär zur parlamentarischen Demokratie ist hier gefordert. Hier geht es auch um gleichen Zugang aller Meinungen in den Medien bei einem solchen Prozess, aber das war ja das Thema des Hearings letzter Woche. Im Prozess des Verfassungsvertrages wären ein Bürgerkonvent, parallel zum Verteterkonvent, statt einer Emailplattform eine anstebenswerte Lösung. Dazu näheres unter www.eu21.willensbekundung.net, www.mtk.lu oder www.demokratie.lu.
Wenn wir zum Wohle aller wirtschaften wollen gehört in den Wirtschaftbereich die Brüderlichkeit, die Solidarität, Assoziationen statt der Konkurrenz, Potentiale vernetzen statt sie gegeneinander auszuspielen. Wir leben in einer Welt wo die Arbeitsteilung vorherrscht, wo einer für den andern arbeitet und wo Selbstversorgung der Vergangenheit angehört. In einer solchen Gesellschaft gilt, dass das Wohl aller zusammenarbeitenden Menschen um so grösser ist , je weniger der einzelne die Erträge seiner Leistungen für sich beansprucht, das heisst, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden. Der so erzielbare maximale Gewinn, dieses zusammen Erarbeitete muss dann allen zu Gute kommen und gerecht verteilt werden. Nicht nur einige wenige Privilegierte dürfen hiervon profitieren, so dass den andern nichts übrig bleibt als zu versuchen mehr oder weniger gut über die Runden zu kommen.
Nicht die Bedürfnisse des Geldes, sondern die der Menschen müssten im Mittelpunkt stehen. Das ist kaum der Fall, wenn weit über 90% der Geldströme spekulative Zwecke haben und von der Realwirtschaft losgekoppelt sind. Stabile Regionalwährungen ohne Zins und Inflation komplementär zu den globalen Währungen wäre hier ein Ansatz, der sich schon mancher Ort bewährt hat. Geld und Währungsmechanismen sind nicht naturgegebene sondern von Menschenhand geschaffen. Dass das gewählte Geld- und Finanzsystemsystem einer der bedeutsamsten und zugleich am häufigsten übersehenen Aspekte der sozioökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit ist, also auch wesentlich für eine zukunftsfähige gesellschaftliche Entwicklung, zeigt eindrucksvoll der Bericht der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste aus dem Jahre 2003.
Halten wir zusammenfassend noch einmal fest: Freiheit im erweiterten Kulturbereich, Gleichheit im rechtlich-politischen Bereich und Geschwisterlichkeit im Wirtschaftsbereich. Das Geld sollte kein Selbstzweck sein, sondern als Hilfsmittel für das Funktionieren des sozialen Ganzen dienen.
Ob der vorgelegte Verfassungsvertrag diesen Idealen entspricht, muss jeder für sich nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden und eine entsprechende Stimme am 10 Juli abgeben.
Die Lösung für unsere soziale Zukunft sollte nicht nur auf der üblichen horizontalen Dimension mit extremen rechten oder linken Lösungen oder faulen Kompromissen liegen, sondern auch in der vertikalen Dimension, der geistigen inspirierten Dimension des Denkens gesucht werden. Dadurch sollte eine zeitgemässe soziale Entwicklung für unser Zusammenleben in Europa und der ganzen Welt ermöglicht werden.
Als Abschluss möchte ich ein Zitat aus Goethes Märchen hinstellen in dem von vier Königen die Rede ist, dem goldenen, dem silbernen, dem ehernen und dem vierten der folgendermassen beschrieben wird : „Die Schlange war, indessen jene redeten, in dem Tempel leise herumgeschlichen, hatte alles betrachtet und besah nunmehr den vierten König in der Nähe. Er stand an eine Säule gelehnt, und seine ansehnliche Gestalt war eher schwerfällig als schön. Allein das Metall, woraus er gegossen war, konnte man nicht leicht unterscheiden. Genau betrachtet war es eine Mischung der drei Metalle, aus denen seine Brüder gebildet waren. Aber beim Gusse schienen diese Materien nicht recht zusammengeschmolzen zu sein; goldne und silberne Adern liefen unregelmäßig durch eine eherne Masse hindurch, und gaben dem Bilde ein unangenehmes Ansehn.“
... (weiter im Märchen taucht der gemischte König zusammen auf mit den Figuren der Alten)
"Wer auf seinen Füßen steht," antwortete
der Alte.
"Das bin ich!" sagte der gemischte König.
"Es wird sich offenbaren," sagte der Alte, "denn es
ist an der Zeit."
...
Die Alte eilte weg, und in dem Augenblick erschien
das Licht der aufgehenden Sonne an dem Kranze der Kuppel, der Alte trat
zwischen den Jüngling und die Jungfrau und rief mit lauter Stimme:
"Drei sind die da herrschen auf Erden: die Weisheit, der Schein und die
Gewalt."
Bei dem ersten Worte stand der goldne König auf,
bei dem zweiten der silberne und bei dem dritten hatte sich der eherne
langsam emporgehoben, als der zusammengesetzte König sich plötzlich
ungeschickt niedersetzte. Wer ihn sah, konnte sich, ungeachtet des feierlichen
Augenblicks, kaum des Lachens enthalten, denn er saß nicht, er lag
nicht, er lehnte sich nicht an, sondern er war unförmlich zusammengesunken.
Ich hoffe nicht, dass man dies eines Tages über
unsere soziale Zukunft, sagen wird.
Alfred Groff