Zeit für ein neues Politikverständnis
Vom 3. bis 10. August 2008 fand im österreichischen Vorarlberg in Götzis der »Kongress für integrale Politik«
statt. Unter dem Motto »Die Zeit ist reif für ein neues
Politikverständnis« wurde zu Vorträgen und Workshops geladen.
Connection-Mitarbeiter Alfred Groff besuchte für uns die Veranstaltung.
Die Trägergruppen des Events waren die Partei der
Violetten, die in Deutschland für spirituelle Politik eintritt, das
Parteiprojekt IP »Integrale Politik Schweiz«, das ganzheitliche
Gesellschaftsprojekt »dynamik 5«, die Konvergenz-Gesellschaft und das
Holon-Netzwerk. Zunächst war ich eher skeptisch, da ich dachte, einer
spirituellen Partei wird es wohl ergehen wie vielen ökologischen
Parteien: Dem Druck des Parteiensystems erliegen, den machthungrigen
Menschen die Posten überlassen und die Pioniere an der Basis
vergraulen. Interessant schien mir, dass Partei für das »Ganze« und
nicht für eine Partikulargruppe ergriffen werden sollte. Also meldete
ich mich an, und studierte den 112-seitigen Reader.
Dort hieß es, die Zeit sei reif für ein neues Politikverständnis. Das
Ziel sei gleichgesinnte Organisationen an einen Tisch zu bringen, um
gemeinsam konkrete Schritte zum notwendigen Wandel zu vereinbaren und
umzusetzen.
Über hundert Menschen waren angereist, die meisten aus Deutschland und
der Schweiz, sowie zwei aus Luxemburg, aber nur drei aus Österreich.
Neben Mitgliedern der organisierenden Vereinigungen waren viele
»Wilberianer«, einige »Steinerianer« und der eine oder andere
»integrale Exot« anzutreffen. Ermutigend war die Tatsache, dass sich
etwa gleich viele Frauen und Männer eingefunden hatten.
Integrale Politik
Beim Einführungsvortrag stellte Gil Ducommun die Prinzipien
integraler Politik vor, wie etwa die Ganzheitlichkeit im Sinne von
liberal, sozial, ökologisch und spirituell. Bei der Aussage, dass vier
Erfahrungsebenen integraler Entwicklung gleichwertig seien, nämlich die
körperliche, die gefühlsmäßige, die rationale und die spirituelle,
fehlte mir die Willensebene. Rudolf Steiner, der meinte, bei uns
Menschen sei diese Bewusstseinsebene noch am schwächsten entwickelt,
scheint dabei Recht zu behalten. Was mir an integraler Politik gleich
gefiel, ist einerseits die weltzentrische Sichtweise, die möglichst
alle Perspektiven berücksichtigt und ein integrierendes
»Sowohl-als-auch-Denken« als Handlungsbasis nimmt und andererseits die
Ergänzung der eigenen individuellen Bewusstseinsarbeit durch
strukturelle Gesellschaftsveränderungen.
Schuld und Zinsen
Die nächsten fünf Tage standen unter wechselnden Themen wie
spirituell-integrales Bewusstsein, Demokratie, Wirtschaft, Soziales und
Finanzen oder Ökologie. Meditationen und Spiralkreistänze,
Plenumgruppen und Workshops sowie musikalische Darbietungen wechselten
sich ab. Als Beispiel eines Vortrages sei der von Peter German zum
Thema »Geld – Segen oder Fluch?« herausgegriffen, weil das Thema Geld
im Laufe der Woche immer wieder im Mittelpunkt stand. Der Vortragende
war Leiter einer Sparkassenfiliale bis er die Bücher von Bernard
Lietaer, Margret Kennedy oder Helmut Creutz gelesen hatte. Er begann
seinen Vortrag, indem er uns einen 50€-Schein zeigte und fragte, was
das sei. Nach unserer gemeinsamen Überzeugung sei das Geld, aber das
Wort »Schein« sagt ja schon sehr viel aus. Peter German trug dann die
»Josephsgeschichte« vor: Hätte Jemand im Jahre 0 einen Cent auf sein
Sparbuch mit 5 Prozent Verzinsung gesetzt, hätte er im Jahr 1990 134
Erdkugeln in Gold besessen. Dies zeigt wie Zins und Zinseszins die
Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht. Da scheint es
nichts zu nutzen, wenn schon in der Bibel, sowohl im Alten wie im Neuen
Testament, folgendes steht: »Wenn du einem Armen aus meinem Volk, der
neben dir wohnt, Geld leihst, dann sei gegen ihn nicht wie ein
Wucherer! Lege ihm keinen Zins auf.« (2. Mose 22,24) oder »Vielmehr liebet eure Feinde, tut Gutes und leihet, ohne etwas zurückzuerwarten, …« (Lukas 6,35).
Auch die christlichen Politiker scheinen auf dem Ohr taub zu sein. Er
informierte die Anwesenden, dass jeden Tag über 1 Milliarde € von
Schuldnern zu den Gläubigern wandert und dass 80 Prozent der Haushalte
durch Einkäufe und Mietzahlungen zu den Verlierern der Zinsdynamik
gehören.
Dass die Zinsfrage nicht der einzige Lösungsansatz sein dürfe, wurde
verschiedentlich hervorgehoben, wie etwa im Workshop »Maßwirtschaft der
Lebensfülle« von Hans Peter Studer. Als weitere wichtige Ansätze schlug
er Komplementärwährungen, Geldnutzungsgebühren, Rohstoffverteuerung,
Bodeneigentumsfragen, Grundeinkommen, Maximaleinkommen, eine
Kapitalakkumulationsgrenze, regionales Wirtschaften,
Patentschutzreduktion, Ausbau der direkten Demokratie oder
Triplebudgetierung vor. Ob das Grundeinkommen nun bedingungslos sein
sollte oder nicht, war einer der Hauptdiskussionspunkte. Nimmt man als
Messlatte die wenigen Profiteure, die es in jedem System gibt? Sind die
Profiteure wirklich die Sozialhilfeempfänger oder nicht eher
diejenigen, die durch Geldspekulationen Millionen abkassieren ohne zu
arbeiten? Nimmt man übermäßige Bürokratie und Einschränkungen des
Privatlebens in Kauf? Muss das Vertrauen nicht dem Sicherheitsdenken
auf einer integralen Bewusstseinsstufe den Rang ablaufen? Den
Schweizern schien dies tendenziell schwieriger zu fallen als den
Deutschen, aber erstere brauchen ja auch mehr Bunker!
Mehr Demokratie!
Eine andere Frage, die den Kongress beschäftigte, war die Frage des
Ausbaus der Demokratie, sei es durch mehr direkte Demokratie wie sie
ansatzweise in der Schweiz existiert oder durch sachgerechte Gliederung
des sozialen Organismus wie z.b. von Rudolf Steiner oder Johannes
Heinrichs angedacht. An der Viergliederung – wie von letzterem
vorgeschlagen – ist problematisch, dass sie mit ihren vier Parlamenten
alles der Rechtssphäre unterwirft. Aber auch transdemokratische
Entscheidungsverfahren wie die Soziokratie oder die Holakratie wurden
vorgestellt
Erfahrungen auf anderen Ebenen als der Diskussionsebene gab es durch
Eurythmie-, Tanz- oder Gesangworkshops oder das Ritual zum »Dialog mit
der Erde« von Siegfried Prumbach. Besonders belebend waren die
Fishbowldiskussionen sowie die Openspace-Gruppen.
Zum Schluss wurde ein Abschlussmanifest vorgetragen. Ob das Ziel
erreicht wurde, ganzheitliche, spirituelle und integrale
gesellschaftspolitische Menschen und Gruppierungen im deutschen
Sprachraum stärker als bisher zu vernetzen oder gar als neuartiges
politisches Milieu zu konstituieren, muss die Zukunft erst zeigen.
Ebenfalls ob die Gefahr zu vieler ähnlicher, parallel nebeneinander
existierender Netzwerke, Foren und Plattformen vermieden werden kann.
Ich bin überzeugt, zumindest die meisten Kongressteilnehmer sind
gewillt ihren Beitrag für eine bessere Zukunft für Alle zu leisten.
— Dr. Alfred Groff
Dr. Alfred Groff, geb. 1955,
Psychologe und Psychotherapeut, Leiter einer psychosozialen
Beratungsstelle, Vorsitzender der Luxemburgischen Gesellschaft für
Transpersonale Psychologie, Initiator der Vereinigung für
Demokratieerweiterung
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