Zum Thema Wissen und Weisheit
Angemeldet habe ich mich zur Tagung "Aufklärung und Erleuchtung
- Wissen und Weisheit für eine nachhaltige Welt" in der „Werkstatt
der Kulturen“ in Berlin lange bevor ich wusste, dass die Doppelbedeutung
des Begriffes „Enlightenment“ Thema dieser Connectionnummer sein sollte.
Als Koordinator des luxemburgischen „Integralen Salons“ war ich natürlich
gespannt, was sich in dem vom „Integralen Forum“ und der „Integralen Akademie“
organisierten Treffen entwickeln würde. Aufklärung und Erleuchtung
sind auch Aspekte des Themas „integral-tetraedrisches Bewusstsein“, das
uns in unserem lokalen Salon schon eine längere Weile beschäftigt.
Der Name „Mein transpersonaler Kern“ unserer integralen Vereinigung impliziert
bereits das Zusammenwirken von Wissenschaft und Spiritualität, von
Kognitivem und Meditativem, von dem sich entwickelnden Relativen und dem
ewigen Absoluten. Vor allem aber die praktischen sozialpolitischen Konsequenzen
der gemeinsam gewonnenen Erkenntnisse dieser Fragestellung erscheinen sowohl
uns als auch den Tagungsinitiatoren eine Frage auf der Höhe der Zeit.
In der Begrüßung meinten sie: „In unserer komplexen Welt stehen
wir vor vielen Herausforderungen wie Armut, Krieg, Finanzkrisen und ökologischen
Katastrophen. Gleichzeitig stehen uns zum ersten Mal das Wissen und die
Weisheit aller Epochen und Kulturkreise der Menschheit zur Verfügung,
um den Anforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Es ist wie ein Kopf-an-Kopf-Rennen
zwischen den Krisen und ihren Lösungen, die nach Einstein immer nur
aus der nächst höheren Ebene des Bewusstseins kommen können.“
Integrales Forum und Integrale Salons: http://if.integralesforum.org/
Die integrale Akademie: http://www.dieintegraleakademie.org
Tetraedrisches Bewusstsein: http://www.demokratie.lu/ag.pdf
Kinderbaumpflanzaktion: http://www.plant-for-the-planet.org/
Im Einführungsvortrag des Organisationsteams erklärte Sonja Student den 200 Teilnehmern wie durch die Integration von Aufklärung und Erleuchtung beide verändert werden: „Aufklärung wird zu einer „aufgeklärten“ inspirierten Aufklärung und Erleuchtung wird zu „aufgeklärter“ evolutionärer Spiritualität. Wir brauchen die ganze Wirklichkeit. Freiheit von der Welt und Fülle im Einen als horizontale Erleuchtung und Freiheit in der Welt und Verwirklichung von Wissen, Weisheit, Mitgefühl und Gerechtigkeit als vertikale Erleuchtung.“ Michael Habecker erläuterte die Weisheit und den Schatten der verschiedenen Entwicklungsstufen der Menschheit. Die Weisheit des Integralen weist auf eine nicht-duale Wirklichkeit hin und auf die Entwicklung des Wissens. Es gibt ein Innen, ein Aussen, Individuelles und Kollektives. Dem Schatten der integralen Stufe gilt es noch auf die Spur zu kommen. Dennis Wittrock schloss mit der Erkenntnis „Lebe dein endliches Selbst und ruhe in der Unendlichkeit“.
... für eine nachaltige Welt
Das Thema Wissen und Weisheit für eine nachhaltige Welt wurde durch Michael E. Zimmerman eingeführt, indem er einen integralen Blick auf die Klimawandel-Debatte warf. Er findet die Fokussierung auf das Thema CO2-Austoss im Mittelpunkt der ökologischen Debatte sehr einseitig. Die Zahl der Toten durch den Klimawandel sei viel geringer als diejenige durch andere weniger beachtete Ursachen wie Malaria, Bleibelastungen oder fehlende Hygiene. Er bemängelt, dass die Grenze zwischen Wissenschaft, die sich um Hypothesen und Messwerte kümmern sollte, und der Politik, die für die Werte zuständig sei, regelmäßig missachtet wird. Er plädiert für Energieeffizienz und Hilfe an arme Länder. Er erläutert das Anliegen des „Hartwell Papers“ zum Klimawandel von 2010, das die Klimafrage unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde betrachtet. Durch diese kontroversen Vorschläge oder die Befürwortung für Atomkraft löste er eine hitzige Debatte aus. Anne Caspari schloss mit einem Bericht vom “State of the World Forum” an. Erfrischend war zum Tagesabschluss die kulturelle Beitrag der Kinderinitiative zur Rettung der Welt „Plant for the Planet – Trees for Climate Justice.“
Meditieren und üben
Integrale Erlebnis- und Austauschmethoden für eine integrale
Tagung zu finden, erweist sich als eher schwierig. Das viel Sitzen und
Zuhören ist meiner Meinung nach noch immer zu sehr im Mittelpunkt
des Geschehens. Die Organisatoren haben versucht, dem auf verschiedene
Art und Weise entgegen zu wirken. So gab es bereits ein meditatives Pre-Event
zur Tagung. Sebastian Gronbach lud zu einer öffentlichen und gemeinsamen
Meditation am Hermannplatz ein. Dieser Platz unweit des Tagungsortes ist
nicht nur ein multikulturelles Sammelsurium, sondern ebenfalls der Begegnungsplatz
mancher Obdachlosen oder Drogenkonsumenten. In der Art eines Flashmobs
wurde der Platz guerillamässig zur stillen Meditation eingenommen.
Einige Passanten mögen sich gewundert haben, nennenswerte Störungen
gab es aber nicht.
Auch wurde jeden Morgen „Integral-Life-Practice“ angeboten in Form
von Evolutionärer Herz-Körper-Geist Erwachenspraxis, Integralem
Yoga oder Binaural-Beat Meditation. Ich entschied mich für letzteres
Angebot. Mit Hilfe binauraler Beats, die über Stereo-Kopfhörer
als auditive Stimuli auf das Gehirn wirken, lassen sich gezielt veränderte
Hirnwellenzustände und meditative Bewusstseinszustände hervorrufen.
John Dupuy meinte, auf diese Weise könnte man sich einen Guru ersparen.
Manche Vortragende boten auch zwischendurch kleine Übungen und Meditationen
an. Gafni ließ uns die zwei Geschmäcker des transpersonalen
ewigen Seins und des personalen sich entwickelnden Werdens durch „Chanting“
erfahren. Seiner Meinung nach ist Werden ohne Sein gefährlich und
Sein ohne Werden unmoralisch. Der integrale Ansatz verlange beides zusammen.
Zwischendurch half auch Matthias Ruff durch kurze Körperübungen
aus dem Yoga den müden Körper zu energetisiern.
„Wir“ sind intelligent
Die integralen World-Cafés sollen helfen, alle Teilnehmer ins Geschehen einzubinden. Ein World-Café ist eine Methode der themenzentrierten Gruppendiskussion, die die kollektive Intelligenz anzapft und die Bewusstheit durch gemeinsames Gewahrsein steigert. Enttäuscht war ich, als das World-Café am ersten Tag nach den Interventionen von Prof. Zimmerman ausfiel, da manche Kongressbesucher sich eher eine Plenumsdiskussion zu den vorgestellten Themen wünschten und die Organisation diesem Wunsch nachgab. „Die Autorität sei nun mal da!“ Also Fragen und Zuhören statt kollektivem Mitwirken, zumindest für diesen Tag? Waren etwa die Post-Modernen und Integralen in der Minderheit im Vergleich zu den Modernen und Prä-Modernen? Mehr blau-orange als grün-gelb? So ist es ja auch weltweit, wie später Ken Wilber unterstrich. An den beiden folgenden Tagen konnte ich dann die World-Cafés genießen. Am Sonntag war Thema, was denn das Wichtigste bei der Integration von Erleuchtung und Aufklärung sei und was jeder einzelne von uns in der Welt umsetzen könnte Ich dachte an die Umsetzung in integraler Politik. Und an Beuys, der mit seinen Anregungen zur sozialen Skulptur, zur direkten Demokratie und zur menschlichen Kreativität doch seiner Zeit voraus war. Ich erinnere mich aber auch noch an die Frau, die entmutigt zum Schluss meinte, das Ganze sei doch nur eine „Begriffsschlacht“.
Begriffe vom Selbst
Ein Hauptvortrag im Plenum trug den Titel: Die Neue Erleuchtung:
Erwecke dein Einzigartiges Selbst als Aktivist des Wandels. Gafni stellte
den Ansatz der verschiedenen Selbste vor. Er definiert Erleuchtung als
höchste Form der Existenz und Gesundheit. Das "Einzigartige Selbst"
ist eine neue Auffassung von evolutionärer Spiritualität, die
die Rolle der Individualität im Prozess des Erwachens bestärkt,
anstatt sie zu bekämpfen. Während der "Big Mind Prozess" einem
Menschen u.a. dabei hilft, die unpersönliche Natur von Erleuchtung
zu erfahren, geht es beim "Unique Self" darum zu erkennen, dass "Deine
Erleuchtung eine einzigartige Perspektive hat, die allein Du einnimmst".
Dies bedeutet Leerheit und Perspektive zugleich. Das getrennte „falsche“
Selbst vergleicht dauernd und will etwas Spezielles sein. Aber Besonderheit
gehört auf das Niveau des "Einzigartigen Selbst" und nicht auf das
Niveau deines Egos. Der Weg vom getrennten Selbst zum unpersönlichen
Selbst ist derjenige der klassischen Erleuchtung, derjenige zum „Einzigartigen
Selbst“ der Weg der neuen Erleuchtung. Die Evolution braucht diese Art
von Erleuchtung. Um diese praktisch zu erfahren, regte uns Diane Hamilton
an mit der inneren Stimme des getrennten Selbst zu reden, anschliessend
mit unserem Ego. Besteht dabei ein Unterschied? Schlussendlich erforschten
wir, was für Erlebnisse der “Big Mind” und das “Unique Self” in uns
auslösten.
Hingezogen wie so mancher meiner Generation von „Sexualität,
Denken und Rock `n Roll“, wollte ich als Ergänzung zum Workshop zum
Thema „Unique Self, Sexualität und Spiritualität“. Statt
Sexualität gab es allerdings nur „Schatten“. Gafni leitete das Thema
mit einer Geschichte über einen Heiler ein. Um ein krankes Baby zu
heilen, rief er zum Gebet zehn Diebe und nicht wie üblich zehn Weise.
Auf diese sonderbare Praxis angesprochen meinte er, die Tore des Himmels
wären verschlossen gewesen und solche Türen zu öffnen,
sei eher in der Kompetenz von Dieben. Das Thema „Schatten“ sei nicht auf
der Ebene des Egos zu lösen, in dem man etwas „Schlechtes“ integriert.
Auf der Ebene des „Einzigartigen Selbstes“ müssten die Verzerrungen
entfernt werden. Wiederum leitete uns Diane Hamilton zu einer praktischen
3-2-1- Schattenprozessübung an: Sich einen Feind vorstellen und zuerst
in 3. Person über ihn reden, dann direkt mit ihm reden und schlussendlich
sich selber zum Feind werden. Die Perspektive wechselt vom „er“ über
das „du“ zum „ich“.
Integral workshoppen
Die Themen weiterer Workshops reichten vom „Zweiten Gesicht Gottes“, der Hingabe an das Größere, über integrale Psychotherapie und Coaching, weiblich und männlich aus integraler Sicht, Sophia-weibliche Weisheit oder die Erleuchtung im Big Business.
Ich besuchte noch ein Workshop über „Inner Science - eine zeitgemäße Mystik“ mit Thomas Hübl. Wir sind auf der Suche nach einer zeitgemäßen Mystik, die den Marktplatz der Postmoderne durchwandern kann, sich mit der Wissenschaftlichkeit des gegenwärtigen Zeitalters auseinandersetzt und zugleich die zeitlose Weisheit radikal praktiziert, betonte Thomas Hübel. Die Frage sei nur, wie wir den Kern der Mystik unverwässert kultivieren können, dabei eine nachhaltig wache Kultur schaffen und gleichsam der Evolution voll ihren Lauf lassen? Sicher nicht durch Seminarhopping! Zunächst geht es um Intention. Mit unserem Nachbarn sollten wir auch gleich unsere Intention der Teilnahme prüfen „Warum bist Du hier?“. Innere und äussere Wissenschaft gilt es zu verbinden. Körper, Geist und Seele synchronisieren, heisst erleuchtet leben! „Bring Dinge in Ordnung, bevor sie existieren“ oder „Wer bist du, bevor die Welt ist?“ meinte Thomas Hübl, bevor er sich viel Zeit nahm sehr persönlich auf Fragen einzugehen. So etwa über das persönliche Gebet oder das Wollen als gleichwertigen Seelenfaktor wie das Denken und das Fühlen.
Ken Wilber live
Ein Höhepunkt der Tagung aber war sicher das Gespräch, das Monika Frühwirth und Dennis Wittrock via Liveschaltung mit Ken Wilber führten. In den Tagungsunterlagen hatte jeder Teilnehmer bereits ein Begrüssungsschreiben von Wilber erhalten. Darin erläuterte er, dass die westlichen Formen der Erleuchtung, sprich: die Aufklärung, sich auf bestimmte Strukturen des Bewusstseins beziehen, die östlichen auf bestimmte Zustände des Bewusstseins. Während letztere technisch als die Einheit von Form und Leere definiert werden, bezieht sich die Aufklärung speziell auf das Auftauchen der rationalen Ebene oder Struktur aus dem vorherigen Bewusstsein einer mythischen Gruppenzugehörigkeit heraus. Beides sind Formen des Erwachens und der Befreiung. Einerseits Befreiung durch die wissenschaftliche Perspektive, die zu einem weltzentrischen Bewusstsein führt und individuelle Freiheiten für alle Menschen fordert. Andererseits eine Freiheit von allen Perspektiven und Formen. Eine integrale Sichtweise würdigt beide Formen von Erleuchtung, die endliche und die unendliche Freiheit. Im Interview selbst betonte Wilber, wie wichtig die Erziehung sei, weil 70% der Menschen auf der ethnozentrischen Bewusstseinsebene einzustufen seien. Wir brauchen dabei sowohl das „grow up“ der multiplen Intelligenzen des Westens, wie auch das „wake up“ der Bewusstseinszustände des Ostens. Wilber gab über einen längeren Zeitraum des Gespräches einige seiner bekannten Erkenntnisse zum Besten. Es gab kaum Möglichkeit Fragen einzubringen. Ob es da nicht besser gewesen wäre, wenn Wilber zu dem Tagungsthema einfach einen Telefonvortrag gehalten hätte, statt die Fragen als Aufhänger zu nutzen, um seine Mitteilungen an die Teilnehmer zu machen? Interessant waren seine Erläuterungen zur Suche nach einem spirituellen Lehrer. Er findet, dass die Verantwortung absolut beim Schüler liegt. Der Lehrer könnte auch einen Zuchtbengel benutzen oder sexuelle Kontakte mit Schüler/innen praktizieren nicht ausschließen, er müsste nur klar, offen, transparent und ehrlich sagen, mit welchen Methoden er arbeitet. Eine abschliessende Achtsamkeitsübung schloss mit den Worten „you are one with everything that’s arising – this awareness is love - your being is essential love“.
Was Liebe ist, erläuterte Gafni bei der Podiumsdiskussion „Liebe ist keine Emotion, sondern eine Wahrnehmung“ und er forderte die Teilnehmer auf, auf ihre einzigartige Art zu lachen, zu leben und zu lieben.
Um herauszufinden, wie die Reaktionen auf das Wilber-Interview waren, sprach ich einige Menschen an und erhielt folgende Antworten: „ich bin überfordert“, „zuviel Logos und zuwenig Eros“, „spannend“, „ihm fehlt die weibliche Qualität der Bezogenheit“, „schön, was Wilber zu den spirituellen Lehrern sagte“, „nur stereotype Wiederholungen, ging zu wenig auf Gegenüber ein, ich bin gegangen“.
... und nun?
Bei der letzen Integrationsrunde im Plenum konnte Kritik geäußert
werden. Einer fand die gestellten Fragen zu abgehoben, ein anderer bemerkte,
dass noch mehr verschiedene integrale Ansätze zu berücksichtigen
seien. Das Bedürfnis nach mehr Interaktion in Form von gelebter Spiritualität
wurde ebenfalls geäußert. Ein Teilnehmer teilte seinen Schmerz
mit, er fürchte nämlich die guten Vorsätze könnten
nicht erreicht werden. Die meisten aber fühlten sich sicher von der
Frage „Was nehme ich mit? Was bringe ich in die Welt?“ sehr inspiriert.
Thomas Hübls gemeinsames Toning mit der Vollversammlung gab der Tagung
einen würdigen Abschluss.